
Manchmal frage ich mich, wie es aussähe, wenn all meine Gedanken wie ein riesiger Farbkleks aus meinem Kopf auf eine Leinwand platschen würden. So wie ein riesengroßer Vogelschiss auf die Windschutzscheibe klatscht. Welches Bild würde dabei entstehen?
Die Vorstellung, dass all diese unerschöpflichen Gedanken in meinem Kopf ständig wie wild durcheinander fliegen und durch diesen winzig kleinen Raum begrenzt sind, den mein Dickschädel bietet, ist schon verrückt. Wenn ich allerdings den Blick nach innen richte, ist es eine unendlich große farbenfrohe und grenzenlose Welt, die nach Freiheit riecht.
Ich mag diese Welt!
Sobald diese Gedanken allerdings aus dieser atemberaubend fantastischen Welt meines Kopfes in die Realität sollen, fühlt es sich an wie in dem Film „Der Sternwanderer“ mit Claire Danes und Charlie Cox: Tristan bringt eine strahlende Haarsträhne von Ivaine, dem Stern, über die Grenze des Fantasiereichs in die reale Welt, in der die Strähne augenblicklich zu grauem Sternenstaub zerfällt.
Als würden meine leichten, lebendigen Gedanken und Ideen beim Verlassen meines Kopfes wie leblose Steine zu Boden plumpsen. Ohne ihre fröhlichen Farben und ihr helles Leuchten. Als wären sie einfach nicht dafür gemacht, in dieser Welt zu sein.
Vollgestopfte Schubladen
Hört sich alles ein bisschen verrückt an. Wenn du ganz anders tickst als ich, vielleicht auch sehr verrückt. Wenn du aber auf irgendeine Weise neurodivergent bist, weißt du ganz genau, was ich meine.
Es ist schwierig, wenn du in einem Umfeld lebst, das deine Gedankenwelt so gar nicht nachvollziehen kann. Das dir teilweise sogar das Gefühl gibt, mit dir stimme etwas nicht. Dass du … naja … falsch bist. Hörst du das immer und immer wieder, glaubst du irgendwann daran.
Oft beabsichtigen die anderen überhaupt nicht, dir dieses Gefühl zu vermitteln. Es kommt viel eher von ihrer Unwissenheit – und auch ihrer Unfähigkeit zu akzeptieren, dass es Menschen gibt, die vollkommen anders denken.
Vermutlich hat das damit zu tun, dass das Gehirn alles Neue versucht in bereits Bekanntes einzuordnen. Entsprechend sucht es nach Mustern und nutzt Schubladen, um alles schön übersichtlich zu verstauen und keinen Overload zu produzieren. Gar nicht so einfach in der heutigen von Informationen überfrachteten Welt.
Von daher hat es unser Hirn schon ganz schlau angestellt. Stell dir vor, wir müssten jedes einzelne kleine Ding, das wir wahrnehmen, erst bewerten und bewusst entscheiden, wie wir damit umgehen. Dann wären wir sicher schon nach wenigen Sekunden völlig überfordert. Wenn wir es überhaupt so lange aushalten würden.
Im Grunde sollte aber niemand pauschal in irgendeine Schublade gesteckt werden. Und schon gar nicht in die Schublade „Du bist falsch!“, die für neurodivergente Menschen reserviert zu sein scheint. Sie werden einfach dort hineingestopft. Ähnlich wie die Kleidungsstücke in den großen Koffer kurz vor Beginn des Urlaubs, auf den sich erst die ganze Familie samt Tanten und Onkeln setzen muss, um ihn schließen zu können.
Das tut nur einfach niemandem gut – im Gegenteil!
Die Folgen gut gemeinter Ratschläge
Doch genauso wie neurodivergente Menschen sind, wie sie sind, kommen auch die Schubladenmenschen nicht aus ihrer Haut.
Ich hadere mit mir, denn ziehe ich nicht auch eine Schublade heraus, wenn ich behaupte, dass ihnen die Vorstellungskraft und die Empathie fehlen, um wirklich nachvollziehen zu können, wie anders neurodivergente Menschen ticken?
Vermutlich kann ich ihnen keinen Vorwurf machen, denn seien wir mal ehrlich: So richtig nachvollziehen, wie ein neurotypisches Gehirn funktioniert, kann ich auch nicht.
- Einfach mal nichts denken?! Unmöglich!
- Keine Bilder im Kopf sehen?! Unvorstellbar!
- Nicht ständig neue Ideen haben?! Unerträglich!
Seien wir für den Moment deshalb ein wenig gnädiger, was diese Schubladen angeht und denken weiter.
Oft nehmen neurotypische Menschen an – und das keinewegs aus Bosheit – dass dieselben Taktiken und Methoden, die ihnen nützen, dies auch bei Menschen mit neurodivergenten Gehirnen tun.
Um dabei zu helfen, die vermeintlichen Schwächen zu überwinden, gibt es haufenweise gut gemeinter Ratschläge. Allen voran die Klassiker à la
- “Konzentrier dich auf eine einzige Sache. Nur dann kannst du erfolgreich sein!”
- „Such dir eine Aufgabe von deiner ToDo-Liste aus und erledige sie einfach!“
- „Setz dir ein Ziel, mach dir einen Plan und folge ganz einfach den einzelnen Schritten!“
Oder auch freundlich in pseudointeressierte rhetorische Fragen verpackte Vorwürfe von wegen
- “Ach, hast du schon wieder was Neues angefangen?”
Jeder dieser Ratschläge und versteckten Vorwürfe für sich wäre vielleicht gar nicht so schlimm. Wenn du dir das aber immer und immer wieder über Jahre oder auch Jahrzehnte anhören darfst, geht das nicht spurlos an dir vorbei. Irgendwann kratzt es extrem am Selbstbewusstsein, denn bei allen anderen scheint es zu funktionieren, nur du schaffst es nicht. Irgendwas ist falsch mit dir.
Und irgendwann ist dann einfach kein Platz mehr in der ohnehin schon überfüllten Schublade, um all diese Selbstzweifel und Sticheleien in die Zwischenräume zu stopfen.
Stattdessen tropfen sie kaum sichtbar, aber stetig dort heraus. Wie kleine Säuretröpfchen, die sich immer tiefer in deine Seele ätzen. Ähnlich wie bei Brandwunden sind oberflächliche kleinere Verletzungen zwar bald nicht mehr zu sehen, die tief gehenden Wunden allerdings heilen nur sehr langsam und hinterlassen immer Narben.
Das Spektrum der Neurodivergenz
Mir war all das nie wirklich bewusst, bis ich vor einigen Jahren in einem Blogartikel von Scannern gelesen hatte.
Von Menschen, die vielseitig interessiert und begabt sind. Die vieles anfangen, manchmal auch nicht wissen, womit sie beginnen sollen, und vermeintlich (fast) nichts beenden. Menschen, die sprunghaft erscheinen und anscheinend ohne Plan durchs Leben gehen. Menschen, die die Welt des Spezialistentums infrage stellen und Dinge in Zusammenhang bringen, die für andere absolut nichts miteinander zu tun haben. Menschen, die neugierig und wissbegierig sind, aber auch chaotisch und leidenschaftlich.
Als ich von all dem gelesen hatte, ist mir ein zentnerschwerer Stein vom Herzen gefallen, dessen Gewicht ich erst wahrgenommen hatte, als es weg war. Ich war unglaublich erleichtert. Zum ersten Mal fühlte sich alles absolut richtig an. Ich fühlte mich richtig.
In ihrem Buch „Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast“ * (Originaltitel „Refuse to choose“) beschreibt Barbara Sher im ersten Teil, was genau Scannerpersönlichkeiten sind. Du glaubst nicht, wie oft ich dachte, dass sie von mir spricht.
Ob Scanner per Definition ins Spektrum der Neurodivergenz fallen, kann ich nicht sagen. Was allerdings darunter zusammengefasst wird, ist unter anderem ADHS, Hochbegabung und Autismus.
Wenn du das das erste Mal liest, klingt es vermutlich vollkommen absurd, dass hier ein Zusammenhang bestehen soll. Für mich ergibt es absolut Sinn.
Unabhängig von jeglichen Begriffen bin ich unglaublich dankbar, zu wissen, dass es Menschen gibt, die ähnlich denken wie ich. Ähnlich und doch ganz individuell. Zumindest fühle ich mich damit in der Welt der Konzentrier-dich-auf-eine-einzige-Sache-und-setz-dir-ein-klares-Ziel-Menschen nicht mehr einsam.
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Der Beginn einer (neuen) Reise
Noch weiß ich viel zu wenig über all das, worüber ich oben geschrieben habe. Und das, obwohl ich mehr als 40 Jahre lang genau in diesem Bereich Erfahrung gesammelt habe – einfach weil ich so bin, wie ich bin. Aber ich wusste nie, wo mein Platz ist.
Es gibt so viele Menschen auf der Welt, die anders denken als es die Norm erwartet. Menschen, die darüber sprechen und aufklären. Die anderen helfen und Mut machen, ihnen zeigen, dass sie nicht „falsch“, sondern absolut richtig sind.
Das ist ganz wunderbar, denn dadurch rückt nach und nach jedes winzig kleine Puzzleteil an seinen Platz – und du fühlst dich in gewisser Weise angekommen.
Mir fehlen das Fachwissen, der psychologische Hintergrund und auch die bewusste Erfahrung mit allem rund um Neurodivergenz. Aber ich bin neugierig und persönlich interessiert Licht ins Dunkel zu bringen. Und vor allem auch am Austausch mit anderen, die sich ganz genauso und doch ganz anders fühlen.
Wenn du magst, begleite mich gerne auf dieser absolut unwissenschaftlichen Wissensreise in die Welt der Neurodivergenz! Naja … und eben tausend anderer Dinge, die mir auf dem Weg begegnen 😉
Seit Anfang Dezember 2024 lag dieser Artikel unbeachtet im Backend meiner Website. Es wurde Zeit, dass er da rauskommt!
Liebe Marina,
das ist ein sehr interessanter, persönlicher und berührender Artikel. Ich kann sehr gut nachfühlen, weil es mir auch lange so ging und auch heute manchmal so geht.
Ich fände es schön, wenn „bunt“ einfach „normal“ wäre. Und einige Teile der Gesellschaft gehen ja schon in diese Richtung.
Ich freue mich auf den Austausch mit dir zu diesen Themen.
Herzliche Grüße
Lidija
Liebe Lidija,
ganz lieben Dank für deine Worte!
Ich mag es ja so wie es ist. Ohne meine ganzen Gedanken und Ideen würde irgendwas fehlen 😉
Viele Grüße
Marina
So spannend deine Reise und der Einblick in deinen Kopf. Danke fürs teilen!
Vielen Dank, liebe Rebekka!
Schön, dass du es nachfühlen kannst und mich ein Stück auf der Reise begleitest 💛